Majda al-Fallah: „Die Gesellschaft ist noch nicht bereit“

„Wir sind hier!“ Das müssen Frauen in Libyen der Gesellschaft signalisieren, fordert Majda Mohammed al-Saghir al-Fallah, Mitglied der libyschen Muslimbruderschaft und Abgeordnete des 2012 gewählten Parlaments. Doch sie warnt vor Eile: Kultureller Wandel brauche Zeit.

 

Majda, das Jahr 2011 gilt als historischer Einschnitt für die libyschen Frauen, die eine wichtige Rolle im Aufstand gegen das Gaddafi-Regime spielten. Wo befinden wir uns drei Jahre später?

Trotz des momentanen Chaos in Libyen können sich Frauen frei bewegen und ihre Meinung äußern. Sie nehmen an Wahlen teil und werden in der Verfassungsgebenden Versammlung vertreten sein. Niemand legt ihnen Hürden in den Weg. Das Problem ist die instabile politische Situation, unter der aber nicht nur Frauen leiden. Dem Staat mangelt es an funktionierenden Institutionen und das Land ist voller Waffen. Doch nun haben wir es geschafft, uns auf die Wahlen der Verfassungsgebenden Versammlung zu einigen. Es geht zwar langsam, aber immerhin voran.

Es gab heftigen Streit über die Frauenquote in der Verfassungsgebenden Versammlung. 15 Prozent waren im Gespräch, nun sind es zehn Prozent. Die Muslimbruderschaft steht einer Quote kritisch gegenüber. Warum?

Wir sind nicht gegen die Quote, aber um unsere Position zu verstehen, müssen wir zu den Parlamentswahlen (2012, d. Red) zurückgehen: Das Parlament hat 200 Mitglieder. 120 Sitze gingen an unabhängige Kandidaten, 80 wurden über Parteilisten gewählt. Die Parteien mussten abwechselnd Männer und Frauen auf die Liste setzen, damit Frauen im Parlament vertreten sein würden. Die unabhängigen Kandidaten dagegen waren frei. Das Ergebnis der Wahl war: Eine Frau zog als Unabhängige ins Parlament ein, 31 über die Parteilisten. Deshalb glauben wir, dass die Gesellschaft noch nicht bereit ist für eine Quote von 15 Prozent oder mehr.

Garantiert die 10-Prozent-Quote in der Verfassungsgebenden Versammlung, dass Frauenrechte ausreichend verankert werden?

Es geht ja nicht nur darum, die Verfassung zu schreiben. Wir werden anschließend ein Referendum durchführen. Dann können die Frauen abstimmen, um sicher zu gehen, dass sich alle einig sind. Ich denke, in der jetzigen Phase ist das fair genug. Man muss ja auch bedenken, dass wir uns noch in einer Übergangsphase befinden. Langfristig müssen die Frauen in Politik und Wirtschaft aktiv sein und sich am gesellschaftlichen Leben beteiligen, um der Gemeinschaft zu signalisieren: Wir sind hier.

Wie betrachten Sie das Problem sexualisierter Gewalt in Libyen? Während des Kriegs 2011 soll es zwar keine systematischen Vergewaltigungen, wohl aber viele vereinzelte Fälle gegeben haben. 

Das sehe ich anders. Systematische sexualisierte Gewalt gab es schon vor der Revolution – auch von Gaddafi selbst. Ein Mann, der sich sexualisierter Gewaltverbrechen schuldig macht, während er einen Staat führt, benutzt diese Waffe natürlich auch gegen seine Gegner im Falle eines Aufstands. Ich denke, er hat dieses Mittel gezielt eingesetzt. Er kannte die libysche Gesellschaft und wusste, was dieses Verbrechen für die Libyer bedeutet, wie es den sozialen Zusammenhalt zerstört. 

Sagen Sie, die Rebellen hätten keine sexualisierte Gewalt gegen ihre Gegner eingesetzt?

Gegen die Frauen nicht wirklich, gegen Männer vielleicht. Aber das wird sich herausstellen, nun, dass wir das Gesetz zur Übergangsgerechtigkeit verabschiedet haben. Ein Untersuchungsausschuss wird eingerichtet, der Beweismaterial sammelt – alles, was mit diesen Verbrechen zu tun hat. Wir müssen uns die Fälle ansehen, um zu verstehen, was passiert ist und wer dafür verantwortlich ist.

Sie haben die gesellschaftlichen Folgen von sexualisierter Gewalt angesprochen. Ein großes Problem ist das Stigma, das vergewaltigten Frauen anhaftet. Wie steht die Muslimbruderschaft dazu? Wäre es nicht sinnvoll, dem aus religiöser Perspektive etwas entgegenzusetzen?

Aus religiöser Perspektive ist eine vergewaltigte Frau nicht selbst schuld. Diese Meinung ist kulturell bedingt. Die Menschen würden das nicht akzeptieren...

...aber könnten religiöse Autoritäten nicht Frauen ermutigen, mit Fällen sexualisierter Gewalt an die Öffentlichkeit zu gehen?

Sie sprechen sich gegen sexualisierte Gewalt aus. In vielen Dingen sagt aber die Religion das eine, die Kultur, mit der wir aufgewachsen sind, jedoch etwas anderes. Daher will auch niemand darüber reden oder Fälle sexualisierter Gewalt dokumentieren.

Was könnte gegen das Stigma und die erneute Viktimisierung der Überlebenden getan werden?

Wir müssen es schaffen, die Verantwortlichen zu bestrafen – wenn auch nur in wenigen Fällen. Das wird harte Arbeit werden. Zwar haben wir nun das neue Gesetz, die Hindernisse sind aber kulturell. Viele Libyer, die meisten sogar, werden es nicht akzeptieren, über diese Art von Verbrechen zu sprechen.